Los, gib alles!
Fitnesstrainerin Elke Neumann dachte, dass sie nichts so leicht auspowern kann. Bis zum Outdoor-Erlebnis FESTUNG AKTIV! Am Ende des Tages verflucht sie ihre Schuhe, verehrt einen Schornsteinfeger – und kennt ihre Grenzen.
Von Hartmut Landgraf
„Alles ist auf Null gesetzt!“ Elke Neumann (41) sagt nur diesen einen Satz und schnappt nach Luft. Minuten zuvor ist sie völlig erledigt aber glücklich über die Mauer der Festung Königstein geklettert – nach dem Kampf ihres Lebens. Elke ist Fitnesstrainerin und einiges gewöhnt, nichts bringt sie so leicht ins Schwitzen. Doch schon nach einer Stunde FESTUNG AKTIV! fühlt sich die Pirnaerin ausgepowert wie schon lange nicht mehr. Die schnelle Metamorphose einer Sportskanone, sie beginnt am Sonnabendvormittag, kurz nach dem offiziellen Start des Festivals und 40 Meter weiter unten – am Einstieg des Abratzky-Kamins.
Hier ist es gewesen. Hier hat sich Sebastian Abratzky die Stiefel ausgezogen, an jenem denkwürdigen 19. März 1848. Und da hinauf geht der Felsspalt, der legendäre Kamin, in dem der Schornsteinfeger seinerzeit das sagenhafte Kunststück vollbringt, die Festung Königstein über die Mauer zu ersteigen. Abratzky ist der Erste und Einzige, der mit einigem Fug und Recht von sich behaupten kann, die unbezwingbare Sachsenfestung „erobert“ zu haben. Oben angekommen, nimmt ihn die Wache sofort in Gewahrsam – er bekommt für die illegale Tour fünf Tage Festungshaft aufgebrummt. Doch für die Besatzung ist die Blamage perfekt: In den umliegenden Orten erhebt sich schallendes Gelächter. Einem harmlosen Schornsteinfeger sei gelungen, wozu unermessliche Streitkräfte nicht in der Lage gewesen wären. Freilich fällt dem frechen Kletterer sein Husarensstreich alles andere als leicht. Abratzky kommt mächtig ins Kämpfen und riskiert Kopf und Kragen.
Und Elke Neumann? Sie könnte den berühmten Kamin im Grunde ganz entspannt angehen, denn anders als ihr legendärer Vorgänger wird sie von oben bestens gesichert. Die historische Tour ist heutzutage ein offizieller Kletterweg. Und sie gehört zu den Geheimtipps von FESTUNG AKTIV! Ausnahmsweise und im Gedenken an den Festungs-Eroberer darf am Outdoor-Wochenende nämlich auch über die Mauer geklettert werden, normalerweise endet die Route an einem Abseilring in der Wand. Doch für Elke Neumann ist selbst dieser Ring noch so weit weg wie der Planet Pluto für die Raumsonde New Horizons, denn Elke ist noch nie in ihrem Leben an einem richtigen Felsen geklettert – bloß ein paar Mal in der Halle. Was das Abenteuer von ihr fordern wird, merkt sie gleich auf den ersten Metern: Kaminklettern – eine Spezialität der Sachsen, aber man muss es eben können! Wichtig bei dieser Technik ist das Verklemmen des Körpers mittels Knien, Gesäß und Unterarmen. Wer es richtig macht, sieht einem Engerling nicht ganz unähnlich. Für Elke ist das alles Neuland. Ein paar Mal rutscht sie aus dem Spalt ins Sicherungsseil und rudert mit den Füßen im leeren Raum. Dann bekommt sie von unten ihre Ansage: „Den Hintern an den Fels bringen, so wird das nichts.“ Jürgen! Der alte Bergsteiger, eigentlich ein gutmütiger Kerl, betreut die Route von unten und hat sichtlich Spaß an der Rolle des strengen Trainers. Elke wird später zugeben, dass es genau dieser Ton ist, der ihr Vertrauen in die Sache gibt, in sich und die Route. Ihr schwerster Moment kommt, als sie Jürgen tief unter sich aus den Augen verliert. Jetzt hat die Pirnaerin minutenlang bloß noch das Seil, das sie vor dem Abgrund bewahrt und das hoch über ihrem Kopf in einer Schießscharte der Mauer verschwindet. Dahinter hält ein unsichtbarer Beschützer die Sicherung straff.
Elke ächzt und stöhnt und ringt hart mit jedem Zentimeter des Kamins. Immer wieder blickt sie sehnsüchtig nach oben, aber der Ausstieg der Route kommt kein bisschen näher. Das mit dem Verklemmen will noch immer nicht so recht funktionieren, die Festungs-Eroberin sucht an der Wand verzweifelt nach brauchbaren Tritten. Aber die Füße finden keinen vernünftigen Stand. Lauthals verflucht Elke ihre Jogging-Schuhe, die auf dem Sandstein herumrutschen wie zwei Gleitschuhe auf der Eisbahn. Eigentlich besitzt sie ein Paar richtige Kletterschuhe, hat sie aber dummerweise zu Hause gelassen. Vielleicht verflucht sie deswegen insgeheim auch sich selbst und den Rest der Welt – niemand wird es erfahren. Wenn man seinen Erzählungen glauben darf, befindet sich Abratzky seinerzeit in einer ganz ähnlichen Gemütsverfassung, obwohl er barfuß klettert und dadurch besseren Halt an der Wand findet. In der Schrift, die er später über sein Abenteuer verfasst, sticht besonders ein Satz heraus: „Aus der Tiefe schaut der Tod zu mir herauf“, schreibt der Schornsteinfeger. Er habe den Abgrund unter seinen Füßen nicht mit den Augen ausmessen können. Beim Klettern wird Abratzky sehr bald klar, dass es kein Zurück gibt. Er ist in einer verzweifelten Lage: Um sein Leben zu retten, muss er ganz hinauf. Den Ausstieg über die Mauer schafft er nur mit allerletzter Zehe. Oben sei er halb ohnmächtig vor Anstrengung auf den Rasen hingesunken.
Elke Neumann hat ein neues Idol: einen Schornsteinfeger. Sie habe unglaublich großen Respekt vor der Route und seiner Leistung bekommen, sagt sie später. Für sie selbst wird das Finale nicht ganz so schlimm. Ohne recht zu wissen wie, kommt sie voran – Zentimeter um Zentimeter – bis der anstrengende Kamin schließlich doch überwunden ist. Die letzten fünf Meter über die Mauer hilft ihr eine Strickleiter. Etwas zittrig, aber aufrecht und lächelnd steigt Elke über die Brustwehr – und mitten hinein zwischen die Festungsbesucher, die ihren letzten Klimmzügen zugeschaut haben. „Alles ist auf Null gesetzt“, sagt sie, und meint damit den Ärger und die Enttäuschungen im Alltag und auf Arbeit. In diesem Augenblick ist alles vergessen. Nichts davon ist mehr wichtig. Ein Moment, der voll und ganz ihr gehört. Elke ist glücklich. Und Elke kennt wieder ihre Grenzen.